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Dr. Martin C. Schleper
„Es wird Monate dauern, bis die Lieferketten wieder harmonisiert sind”

Woher kommen die aktuellen Lieferprobleme und wie kann Produktion nachhaltiger gestaltet werden? Mit Lieferketten-Experte Dr. Martin C. Schleper haben wir über die Produktionsschritte eines Smartphones und die aktuelle Lage des Welthandels gesprochen.

Februar 2022

Dr. Martin C. Schleper ist seit 2018 Associate Professor für Operations und Supply-Chain-Management an der University of Sussex Business School in Brighton/Großbritannien. Zuvor promovierte er an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen im Bereich des nachhaltigen Supply-Chain-Managements und der Wirtschaftsethik.

Hallo Martin, anstatt „Made in“ heißt es auf vielen Produkten nur noch „Designed in“. Inwiefern zeigt sich daran, dass sich die Produktion globalisiert hat?

Dr. Martin C. Schleper: Globalisierung ist eigentlich kein neues Phänomen. Man denke nur an die Seidenstraße als Netz von Handelsrouten, was vielleicht als Beginn der Globalisierung gesehen werden kann. Vor allem in den 1980er-Jahren haben Unternehmen begonnen, die Prozesse, die nicht zu ihrem Kerngeschäft gehörten, immer weiter auszulagern, um Kosten zu senken. Aufgrund dieser Entwicklungen ist die Herstellung diverser Produkte heutzutage mehrstufig und über verschiedene Standorte und Länder verteilt. Dabei zeigt sich, dass arbeitsintensive Schritte ausgelagert und vornehmlich in Niedriglohnländern vollzogen werden, während sich im westlichen Teil der Welt die kapital- und qualifikationsintensivere Produktion konzentriert.

Kannst du uns die Produktions- und Lieferkette am Beispiel eines Smartphones einmal erklären?

Dr. Martin C. Schleper: Das Smartphone ist definitiv ein globales Produkt. Es besteht aus Hunderten von Einzelteilen. Die Anzahl der Länder, aus denen die verschiedenen Komponenten kommen, ist im mittleren zweistelligen Bereich anzusiedeln. Weil die Leistungsmerkmale von Smartphones relativ ähnlich sind, ist die Entscheidung für ein Produkt hauptsächlich eine Designfrage geworden.

Das Design ist und bleibt die Kernkompetenz der Hersteller und wird nicht ausgelagert.

Dr. Martin C. Schleper, Associate Professor der University of Sussex

Das Design ist und bleibt die Kernkompetenz der Hersteller und wird nicht ausgelagert. Bei den unterschiedlichen Komponenten ist das anders. Die Spezialteile und hoch entwickelten Komponenten kommen aus Industrieländern. Teile der Kamera und des Displays werden in Japan und Südkorea gefertigt, der Beschleunigungsmesser zum Beispiel in Deutschland. Rohstoffe wie Gold, Silber, Kupfer oder seltene Metalle, die in Smartphones verbaut werden, kommen hauptsächlich aus Afrika. Um sie konkurrieren Hersteller und ganze Länder. Sie werden oftmals unter kritischen Menschenrechts- und Umweltbedingungen gewonnen. Lautsprecher, Batterien und Gehäuse werden zum Großteil in China hergestellt. Dort wird das Smartphone auch zusammengesetzt und dann in die ganze Welt verschifft.

Auch bei Smartphones kommt es aktuell zu Lieferproblemen. Wo hakt es gerade in der globalen Lieferkette und welche Rolle spielt das Coronavirus dabei?

Dr. Martin C. Schleper: Tendenziell sind Lieferketten natürlich umso anfälliger, je länger sie sind. Zu den Engpässen der letzten zwei Jahre haben ganz verschiedene Ereignisse beigetragen. Darunter langwierige wie der Brexit, durch den es in Großbritannien zu Personalengpässen kam.

Aufgrund der Lockdowns und der reduzierten Arbeitsleistung konnte in bestimmten Regionen nicht genug produziert werden.

Dr. Martin C. Schleper, Associate Professor der University of Sussex

Oder die handelskriegsähnliche Situation um Zölle zwischen den USA und China, die verschiedene Branchen stark belastet. Andere Probleme sind eher kurzfristig, wie die Havarie des Containerschiffs „Ever Given“ im Suezkanal, die den Welthandel im März 2021 für sechs Tage blockierte. Hinzu kam noch die Corona-Pandemie. Aufgrund der Lockdowns und der reduzierten Arbeitsleistung konnte in bestimmten Regionen nicht genug produziert werden. Dies trifft in vielen Fällen auf eine gesteigerte Nachfrage, die sich bei Verbraucher*innen aufgestaut hat, was wiederum zu einer Überlastung von Häfen und anderen Transport- und Umschlagplätzen führt.

Wie zeigt sich das im Alltag der Menschen?

Dr. Martin C. Schleper: Das lässt sich an einem Phänomen aus den USA beispielhaft erklären: Viele Menschen haben in der Corona-Pandemie begonnen, ihr eigenes Brot zu backen. Daraus resultierte im Frühjahr 2020 ein um das Vierfache gestiegener Bedarf für Backhefe.

Die Produktion stockt oft nur, weil einzelne Teile fehlen.

Dr. Martin C. Schleper, Associate Professor der University of Sussex

Das Problem war nicht die Hefe selbst, sondern der Mangel an Gläsern, in welche die Hefe normalerweise verpackt wird. Der Glaszulieferer in Indien konnte aufgrund eines Lockdowns nicht die ausreichende Menge produzieren. Der Hefehersteller konnte aber kurzfristig auf eine Plastikverpackung umsteigen. Das zeigt: Die Produktion stockt oft nur, weil einzelne Teile fehlen. Wenn diese Komponenten des Produktes spezieller sind als in diesem Beispiel, kann es Monate oder Jahre dauern, bis ein neuer Zulieferer genutzt werden kann und die Produktion wieder reibungslos läuft.

Lösen sich die aktuellen Probleme von selbst, wenn die Corona-Pandemie vorbei ist?

Dr. Martin C. Schleper: Auf das Coronavirus waren die Unternehmen nicht vorbereitet, auch wenn von wissenschaftlicher Seite schon lange vor globalen Phänomenen wie einer Pandemie gewarnt wurde. Unternehmen managen in erster Linie die alltäglichen Risiken. Solche, die ein proaktives Risikomanagement betrieben und beispielsweise Ausweichlieferanten vorgehalten oder Puffer in der Lieferkette eingebaut hatten, sind mit der Pandemie besser zurechtgekommen. Die Unternehmen werden sich die aktuellen Probleme sicher genau anschauen und ihre Lernkurve wird sehr steil sein.

Welche Faktoren können noch helfen, die Probleme zu lösen?

Dr. Martin C. Schleper: Die Resilienz in der Lieferkette, also die Widerstandsfähigkeit bei unerwarteten Schocks, kann erhöht werden. Dazu trägt eine verbesserte Transparenz in der Lieferkette bei, sodass Informationen und Prozesse in Echtzeit überwacht werden und schnell erkannt wird, wo es hakt.

Wichtig ist zudem ein größerer Puffer bei den Lagerbeständen und Lieferquellen.

Dr. Martin C. Schleper, Associate Professor der University of Sussex

Ein stärkerer Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Akteuren kann auch helfen. Wichtig ist zudem ein größerer Puffer bei den Lagerbeständen und Lieferquellen, was natürlich Kosten verursacht. Und ein weiterer Ansatzpunkt ist die Agilität von Unternehmen, also ihre Fähigkeit, schnell auf alternative Prozesse oder Produkte umzustellen, wenn das nötig ist. Viele Faktoren spielen also eine Rolle. Daher wird es in der aktuellen Situation noch Monate vielleicht auch Jahre dauern, bis die Lieferketten wieder harmonisiert sind.

Unternehmen stehen immer mehr in der Verantwortung nachhaltig zu handeln. Inwiefern spielt Nachhaltigkeit bei Lieferketten eine Rolle?

Dr. Martin C. Schleper: Vor allem in Europa beschäftigen sich Unternehmen schon seit mehr als 20 Jahren mit nachhaltigen Produktionsprozessen. Es gibt stetige Verbesserungen, zum einen, weil Konsument*innen mehr Nachhaltigkeit verlangen, zum anderen aber auch zur Risikovorsorge. Die Wertschöpfung des Produkts findet in jedem Schritt der Lieferkette statt. Je nach Hersteller werden in der Automobilbranche mehr als 75 Prozent der wirtschaftlichen Leistung durch Zulieferer erbracht. Daher spielen Lieferketten für die nachhaltige Produktion eine große Rolle.

Lieferketten spielen für die nachhaltige Produktion eine große Rolle.

Dr. Martin C. Schleper, Associate Professor der University of Sussex

Was können Unternehmen tun, um eine nachhaltige Produktion zu garantieren?

Dr. Martin C. Schleper: Hersteller müssen ihre Zulieferer einbeziehen, um Nachhaltigkeit zu verbessern. Das ist auch in ihrem eigenen Interesse, da sie oft für deren Verfehlungen mitverantwortlich gemacht werden. Problematisch sind vornehmlich die Prozesse am Anfang der Lieferkette. Dabei geht es um die Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen. Oftmals versuchen Unternehmen daher, auf Lieferanten einzuwirken und in manchen Fällen auch ganze Lieferketten offenzulegen.

Oftmals versuchen Unternehmen daher, auf Lieferanten einzuwirken und in manchen Fällen auch ganze Lieferketten offenzulegen.

Dr. Martin C. Schleper, Associate Professor der University of Sussex

Der Einkauf entwickelt sich immer mehr zu einer strategischen Einheit in Unternehmen. Hersteller setzen auf Verhaltenskodizes und Transparenz, damit Informationen partnerschaftlich in der Lieferkette geteilt werden. Ein weiteres Instrument sind öffentliche Nachhaltigkeitsberichte. Unternehmen arbeiten auch mit NGOs und externen Auditoren zusammen, die prüfen, ob in bestimmten Regionen Nachhaltigkeitsstandards eingehalten werden. Politische Initiativen sind ebenfalls wichtige Impulse für mehr Nachhaltigkeit. Sie sensibilisieren die Konsument*innen und erzeugen den entsprechenden Druck, dass sich Unternehmen mit Themen wie Konfliktmineralien, moderner Sklaverei oder Umweltstandards beschäftigen.

Arbeiter kontrollieren Frachtcontainer.
Wie geht es weiter im Welthandel?

Wie Anleger*innen von der Lage des Welthandels zukünftig profitieren können, erklärt unser Trendartikel.

Und welchen Hebel haben Verbraucher*innen, um Nachhaltigkeit zu verbessern?

Dr. Martin C. Schleper: Verbraucher*innen sollten vor allem kritisch sein. Wenn ein T-Shirt aus Bangladesch 3 Euro kostet, dann müssen davon Stoffe, Herstellung, Logistik, Lagerung etc. bezahlt werden. Bei den Näher*innen kann bei solchen Preisen nicht mehr viel ankommen.

Verbraucher*innen sollten vor allem kritisch sein.

Dr. Martin C. Schleper, Associate Professor der University of Sussex

Jedoch bedeuten höhere Endpreise nicht automatisch, dass Produkte nachhaltiger hergestellt werden als billige Produkte. Gerade in der Modebranche können auch generelle Konsummuster und Trends wie Fast Fashion hinterfragt werden. Das gilt natürlich auch für andere Branchen. Für Verbraucher*innen gibt es zudem gute Siegel, die bestimmte Standards garantieren. Im Textilbereich ist das zum Beispiel das Oeko-Tex-Siegel in Umweltfragen.

Wie geht es nun weiter? Gehören Lieferprobleme zur neuen Normalität?

Dr. Martin C. Schleper: Die tägliche Verfügbarkeit von Produkten ist elementarer Bestandteil unseres Wirtschaftssystems und unseres westlichen Lebensstandards. Mit den aktuellen Problemen werden wir aber noch länger zu tun haben. Spannend ist, inwieweit sich die Einschränkungen auf Konsummuster auswirken werden. Wenn man sich anschaut, dass wir die Ressourcen der Erde jährlich zu circa 170 Prozent ausbeuten und damit Raubbau betreiben, kann man sich nur wünschen, dass ein Umdenken stattfindet, was Konsum und Verfügbarkeit angeht. Dann wären Lieferprobleme auch weniger tragisch oder für einige Produkte obsolet. Die bisherigen Erfahrungen zeigen aber, dass Menschen schnell vergessen. Wahrscheinlicher ist daher, dass in alte Muster verfallen wird, wenn Corona kein Thema mehr ist.

Dr. Martin C. Schleper

Dr. Martin C. Schleper ist Associate Professor für Operations und Supply-Chain-Management an der University of Sussex.

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