Dr. Jürgen Michels ist Chefvolkswirt und Leiter Research der BayernLB in München. Zuvor arbeitete er unter anderem als Euro-Raum-Chefvolkswirt bei der Citigroup in London. Er studierte Volkswirtschaft an der Universität Bonn und promovierte mit einer Arbeit zu Zentralbankstrategien an der Universität Frankfurt.
Hallo Jürgen, die Inflationsrate ist seit 2021 auf Rekordniveau. Nun sinkt sie aber teils rasant. Sind das gute oder schlechte Nachrichten?
Zunächst einmal ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, was Inflation eigentlich ist. Nämlich ein statistisches Maß, bei dem ich das jetzige Preisniveau mit dem von vor 12 Monaten vergleiche. Über den Sommer ist die Inflationsrate immer stärker gesunken.
Die Inflationsrateist über den Sommer immer stärker gesunken. Das hat viel mit dem Basiseffekt zu tun.
Dr. Jürgen Michels, Chefvolkswirt der BayernLB
Verbraucher*innen empfinden, dass die Preise bei Lebensmitteln, Benzin und Energie immer noch steigen. Liegen sie richtig?
Die Daten zeigen, dass gerade bei Nahrungsmitteln die Inflation noch immer deutlich höher ist. Im September betrug die Inflationsrate in Deutschland 4,5 Prozent, bei Nahrungsmitteln lag sie bei 7,5 Prozent. Aber auch hier liegt der Höhepunkt von 22,3 Prozent im März deutlich hinter uns und die Lage dürfte sich weiter entspannen. Darauf deutet zum Beispiel auch die Entwicklung der Weltmarktpreise für Rohstoffe wie Gas und Getreide hin.
Die Weltmarktpreisevon Rohstoffen haben sich nicht nur stabilisiert, sondern sind teilweise niedriger als im Vorjahr.
Dr. Jürgen Michels, Chefvolkswirt der BayernLB
Wie reagieren Unternehmen auf die Inflation und was sollten Verbraucher*innen jetzt beachten?
Durch den Anstieg der Rohstoff- und Energiepreise sind auch die Preise für Industriegüter deutlich gestiegen. Das sind Güter, die Unternehmen zur Produktion brauchen. Diese Preissteigerungen haben produzierende Unternehmen soweit möglich an die Endverbraucher*innen weitergegeben.
Preissenkungenim Dienstleistungsbereich werden wir wohl nicht sehen.
Dr. Jürgen Michels, Chefvolkswirt der BayernLB
In den Medien kursiert der Begriff “Shrinkflation”. Was verbirgt sich dahinter?
Viele Unternehmen haben im letzten Jahr ihre Margen erhöht, weil die Nachfrage während der Pandemie so stark war. Hier griff der Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Manche Einzelhändler versuchen ihre Margen jetzt zu stabilisieren, indem sie die Packungsgrößen verkleinern. Dafür steht der Begriff “Shrinkflation”, wobei es sich dabei nicht um einen wissenschaftlichen Begriff handelt. In der offiziellen Statistik werden solche Anpassungen als preissteigernd festgehalten.
Welche Branchen sind derzeit Inflationstreiber?
Rückblickend waren es natürlich der Energie- und Nahrungsmittelbereich, in denen wir starke Preiserhöhungen hatten. Nach vorn schauend erwarten wir im nächsten Jahr Gebührenerhöhungen im öffentlichen Dienst oder beim Personennahverkehr.
Nach den Lohnabschlüssenim öffentlichen Dienst wird man versuchen, einen Teil dieser Kosten zurückzuholen.
Dr. Jürgen Michels, Chefvolkswirt der BayernLB
Kannst du schon Veränderungen im Konsumverhalten beobachten?
Die Preissteigerungen waren im letzten Jahr auch deshalb möglich, weil wir eine hohe Nachfrage nach bestimmten Gütern hatten. Nehmen wir zum Beispiel Urlaubsreisen. In der Pandemiezeit sind viele Menschen nicht in den Urlaub gefahren. Das wollte man jetzt nachholen, wodurch die Nachfrage anstieg. Andererseits hatten die Menschen das Geld für ihren Urlaub in den letzten zwei Jahren angespart und waren in der Lage, hohe Preise fürs Reisen zu zahlen. Dadurch konnten die Reiseanbieter die teilweise großen Preisanstiege durchsetzen. Aber nach dieser Sommerurlaubssaison dürfte der Wettbewerb bei Anbietern wieder größer werden, weil aufgrund der lahmenden Wirtschaft die Einkommenssituation bei vielen Haushalten angespannter sein wird. Daher bleibt abzuwarten, ob die Preise für Urlaubsreisen aber auch andere Dienstleistungen so hoch bleiben werden.
Nachdem wir auf Verbraucher*innen geblickt haben, lass uns auf Anleger*innen schauen. Welche Form der Geldanlage empfiehlt sich in der aktuellen Situation?
Die Europäische Zentralbank (EZB) und andere Zentralbanken haben auf die hohe Inflation reagiert und die Zinsen massiv angehoben. Der Einlagezinssatz ist jetzt wieder bei 4 Prozent angekommen. Wir sehen auch entsprechende Entwicklungen auf den Rentenmärkten, wo die Renditen deutlich angestiegen sind. Eine Geldanlage mit sicheren Zinsen aufs Tagesgeld oder mit festverzinslichen Wertpapieren lohnt sich wieder. Das ist eine positive Entwicklung für Anleger*innen. Zwar bleibt aufgrund der hohen Inflation von den Renditen real wenig hängen, aber da die Inflationsrate sukzessive sinkt, werden bald auch wieder positive Realrenditen zu Buche stehen.
Wie sieht es mit Aktien und anderen Wertpapieren aus?
Für Unternehmen ist das Umfeld durch die höheren Kosten derzeit schwierig. Das ist die Kehrseite der Medaille und keine gute Nachricht für den Aktienmarkt. Darum müssen wir damit rechnen, dass einige Unternehmen Schwierigkeiten bekommen werden.
Einige Unternehmenwerden Schwierigkeiten bekommen, darunter die Immobilienbranche, das Bau- und Verarbeitende Gewerbe.
Dr. Jürgen Michels, Chefvolkswirt der BayernLB
Wie schätzt du die Entwicklung der amerikanischen und europäischen Märkte ein?
Die US-Märkte sind ein ausschlaggebender Faktor für die Entwicklung der globalen Märkte. Wahrscheinlich können sich die US-Märkte mittelfristig stabilisieren und als stark erweisen. Das hängt aber davon ab, wie sich die Inflation entwickelt und ob die Geldpolitik vielleicht noch weiter auf die Bremse treten muss, was die Konjunktur in den USA dämpfen würde. Insgesamt denke ich, dass vor allem Europa Aufholpotenzial hat. Denn hier beobachten wir schon seit längerem eine geringere Performance im Vergleich zu den USA, wodurch sich günstigere Bewertungskennzahlen ergeben haben.
Erwartest du eine weitere Anhebung des Leitzinses durch die EZB?
Oft ist es so, dass die EZB den Leitzins anhebt und dann schnell wieder absenkt. Aufgrund der aktuellen Unsicherheiten hinsichtlich der Inflation und der noch ausstehenden Antwort auf die Frage, ob es eine Lohn-Preis-Spirale gibt, wird die EZB mit einer weiteren Erhöhung abwarten.
Wir werdenkeinen Zinsgipfel, sondern eher ein Zinsplateau sehen.
Dr. Jürgen Michels, Chefvolkswirt der BayernLB
Was lässt sich für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung ableiten? Hast du eine Prognose für uns?
Generell wird 2024 ein Jahr der Unsicherheiten. Für Deutschland erwarten wir im Jahr 2024 eine schwache wirtschaftliche Entwicklung und nur 0,5 Prozent Wachstum. Bei der Inflationsrate werden wir weitere Rückgänge sehen. Aber aufgrund der nachlassenden Basiseffekte wird das langsamer gehen.
Die Inflationsratewird weiter zurückgehen. Aber aufgrund der nachlassenden Basiseffekte langsamer.
Dr. Jürgen Michels, Chefvolkswirt der BayernLB